Ich war mal Ausländerin
Im Jahr 1970 kam ich 25 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges in Leningrad, heute St. Petersburg, an. Dort wollte ich studieren, in einer Stadt, die im Krieg 900 Tage lang durch die deutsche faschistische Armee belagert war. Mehr als eine Million Menschen verloren dort ihr Leben, ca. 90% waren verhungert. Damals konnte jeder Leningrader über den Verlust von Angehörigen, Nachbarn, Freunden und Kollegen berichten. Mit diesem Wissen kamen wir also in dieser wunderbaren Stadt an. Am ersten Tag des Studiums lernten wir unsere Kommilitonen kennen. Anlässlich unseres 50-jährigen Jubiläums erinnerte sich mein russischer Kommilitone Vitja: „Bei der Aufnahmezeremonie im Stadion „Polytechniker“ traf die russische (eigentlich ja die sowjetische, Meine Ergänzung) Fraktion verwundert auf junge Leute in blauen Hemden mit der Aufschrift „FDJ“. Die Besitzer der blauen Hemden wiederum schauten auch erstaunt mit weit aufgerissenen Augen auf das Geschehen. Kurzes Bekanntmachen im Vorbeigehen … Unser Wohnheim – Gebäude 6m des Studentenstädtchen war wirklich international. Deutsche, Vietnamesen, Kubaner, freiheitsliebende Afrikaner sowie eine große arabische Landsmannschaft, die einen eigenen Bereich auf der Etage einnahm … Einige ausländische Nationen hatten nur wenige Vertreter, die Bulgaren zum Beispiel. Ja, und die sowjetischen Studenten vertraten voll die These, dass die Sowjetunion ein großartiger Vielvölkerstaat ist. Fast alle von uns jungen sowjetischen Leuten hatten damals noch nie Gelegenheit gehabt, Ausländer kennenzulernen. Und jetzt – dieses! Das war unerwartet, undenkbar, einfach unvorstellbar, krass, unbeschreiblich interessant!“
Die sowjetischen Studenten begegneten uns mit neugierigem Abstand, unsicher, ob und wie sie uns ansprechen können. Wir wiederum trauten uns nicht recht, auf Russisch zu sprechen.
Verglichen mit den Menschen, die aus anderen Ländern zu uns nach Freiberg kommen, hatten wir es damals – im Rückblick betrachtet – relativ leicht. Administrative Angelegenheiten wie die Anmeldung bei der Stadt und der Hochschule wurden zentral geregelt. Um eine Krankenversicherung musste man sich auch nicht kümmern. Wer einen Arzt brauchte, wurde behandelt. Es blieben trotzdem hunderte kleine Dinge, an die man sich zu gewöhnen hatte. Dass ich im Wohnheim das Zimmer mit russischen (sowjetischen) Studentinnen teilen musste, fand ich anfangs nicht gut. Das war aber der erste Schritt zu meiner Integration.
Diese Erfahrungen haben mir bei meiner Arbeit an der Universität sehr geholfen, unsere ausländischen Studenten bei Problemen zu unterstützen. An der TU Bergakademie Freiberg gibt es für die Betreuung der ausländischen Studentinnen und Studenten das Internationale Universitätszentrum, das auch bei der Vorbereitung und Ankunft der Studierenden behilflich ist. Und trotzdem bleiben neben dem anspruchsvollen Studium viele kleine Probleme des Alltags, um in unserer Stadt heimisch werden zu können. Diese Studenten verdienen es, dass wir ihnen unvoreingenommen und freundlich begegnen.
Als im vergangenen Jahr der Krieg gegen die Ukraine begann, gehörte ich zu den zahlreichen Freibergern, die sich als Helfer für die Betreuung der ukrainischen Geflüchteten mit ihren Kindern gemeldet hatten. Als Sprachmittlerin habe ich Frauen bei ihren ersten Behördengängen begleitet. So habe ich Abläufe bei der Ausländerbehörde, im Bürgerbüro, bei der Beantragung von Kindergeld, bei der Wohnungssuche, bei der Antragstellung für Schul- und Kita-Plätze oder der Aufnahme in die Krankenversicherung kennengelernt.
Man muss sich vorstellen: Die Frauen haben, meist mit ihren Kindern fluchtartig ihre Heimat verlassen, mussten alles lieb Gewonnene zurücklassen, hatten eine beschwerliche Reise überstanden und kamen bei uns an, wo für sie alles, meist auch die deutsche Sprache, neu und ungewohnt war. Mit Dankbarkeit haben sie die ersten Hilfsangebote angenommen. Ich habe die Frauen bewundert, mit wieviel Geduld und Disziplin sie die Ämtergänge absolviert haben. Da war es ja schon eine Herausforderung, sich ohne Deutschkenntnisse einen Termin zu besorgen.
Gut, dass Freiberg Einrichtungen und viele Ehrenamtliche hat, die geholfen haben!
Beim Kinderschutzbund beispielsweise konnten die Kinder für ein paar Stunden in der Woche unbeschwert spielen, während sich die Erwachsenen über ihre Probleme und Erfahrungen ausgetauscht haben. Das Netzwerk der Mitarbeiterinnen des Kinderschutzbundes war eine große Hilfe bei der Unterbringung der Kinder.
Positiv war ich von den Mitarbeiterinnen im Jobcenter überrascht, die mit den Geflüchteten die Antragsformalitäten erledigt haben. Das war für die Mitarbeiterinnen eine Riesenaktion, die sie trotz ihrer üblichen Arbeitsaufgaben zu bewältigen hatten. Ich habe sie immer gut organisiert, freundlich, konzentriert, verständnisvoll und geduldig erlebt.
Unsere neuen Mitbürger brauchen auch weiterhin Unterstützung, denn die eingehenden Bescheide mit ihren rechtsverbindlichen Formulierungen sind für sie kaum verständlich. Da nützt auch die viel genutzte Übersetzungs-App kaum.
Nachdem die Kinder in Kitas und Schulen gut untergebracht sind, würden sehr viele Geflüchtete gern wieder arbeiten, möglichst in ihren erlernten Berufsfeldern. Das geht aber meist nicht ohne Grundkenntnisse unserer Sprache. Ausgerechnet die wichtigste Maßnahme für die Integration, die frühzeitig angeboten werden sollte, wird nicht im erforderlichen Umfang realisiert. Ich kenne Frauen, die im Frühsommer 2022 in Freiberg angekommen sind und immer noch kein Angebot für einen Integrationskurs erhalten haben. Es ist zu hoffen, dass die zuständigen Verantwortlichen diese Fehlleistung schnellstmöglich korrigieren und nicht nur den Umstand bedauern.
Mein Fazit: Der Landkreis Mittelsachsen hat bei der Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten trotz vieler administrativer Hürden seine Sache gut gemacht. Den ukrainischen Geflüchteten muss man mit Respekt und Verständnis begegnen. Ich wünsche ihnen eine erfolgreiche Integration.
Karin Sichone
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