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Argumente statt Mythen

Rede von Dr. Michael Stahl am 31.1.2022 auf dem Freiberger Obermarkt

„Meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Argumente statt Mythen“ lautet der Inhalt eines der neuen Motive der Freiberger Imagekampagne. Mit diesem Motiv wird ein Thema aufgegriffen, das lange Zeit unter dem öffentlichen Radar lief, das schnell als private Spinnerei abgetan war, von dem sich aber spätestens im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie auch in Deutschland zeigt, wie grundlegend die Auseinandersetzung damit für unser Zusammenleben ist.

Verschwörungsmythen sind heute weltweit verbreitet und gewinnen an Zuspruch. Sie stellen eine reale Gefährdung der westlichen Demokratien dar. Sie eignen sich hervorragend, um autoritärer und rechtsextremer Politik zu Macht zu verhelfen.
Der zentrale Kern von Verschwörungsmythen ist dabei in jeder Spielart derselbe: es wird eine dekadente, globale, sehr mächtige Elite angenommen, in deren Interesse es liegt, das in der Regel einfache Volk zu knechten, auszubeuten oder – zugespitzt – gar zu vernichten. Attraktiv ist diese Vorstellung, weil man mit ihr beinahe alle komplizierten globalen Probleme einfach erklären kann, weil schnell Schuldige auszumachen sind und es auch eine vermeintliche Handlungsoption gibt: den Sturz der Eliten nämlich und bis es so weit ist, den Widerstand gegen sie. Moralisch ist dabei im Grunde jedes Mittel recht, denn man steht ja vermeintlich auf der Seite des Guten, man hat vermeintlich die Dinge durchschaut und leistet etwas, das vermeintlich nicht allein dem eigenen Wohl, sondern dem Wohl vieler dient.

Politisch attraktiv ist die Vorstellung für die, denen es gelingt, sich an die Spitze eines solchen Widerstands zu stellen. Sie werden zu den Führern im Kampf gegen die Eliten gewählt oder erhoben. Im Grunde können dies Populisten jeder politischen Farbe sein, in westlichen Demokratien sind es aber vor allem nationalistische, rechtsradikale und rechtsextreme Bewegungen, die davon profitieren. Sie proklamieren, dass der Kampf gegen die globalen Eliten geführt werden muss auf Basis einer einheitlichen Volksgemeinschaft. In ihr ist die Reinheit, die Gesundheit, die Kraft, der gesunde Volkswille angelegt, um den Kampf zu gewinnen.

Verschwörungsmythen sind alt und wandlungsfähig. Sie prägten die Entwicklung des 20. Jahrhunderts mit. Sie waren eine Säule, auf der die Vernichtung von Jüdinnen und Juden durch den Nationalsozialismus möglich war. Man wähnte sich dabei in einer historischen Mission, den vermeintlich verderblichen Charakter des Judentums auf die Welt und die deutsche Volksgemeinschaft ein für alle Mal zu beseitigen. In der DDR diente die Vorstellung einer kapitalistischen Weltverschwörung der inneren Einigung und Motivation. Antisemitisches Gedankengut wurde auch hier eingeflochten, wenn als Auslöser für alles Übel in der Welt auch die vermeintlich jüdische Finanzelite mit herangezogen wurde.

An den Feindbildern hat sich im Grunde nichts geändert. Wenn heute und seit Jahren von George Soros oder Bill Gates als Köpfen jener vermeintlichen Weltverschwörung die Rede ist, so sind beide Personen Synonyme eben für jene kapitalistische und teils jüdische vermeintlich dekadente globale Elite.

Wie gefährlich Verschwörungsmythen für westliche Demokratien sind, zeigt das Beispiel der USA. Als besonders eigenwilliger wie wirkmächtiger Verschwörungsmythos bestimmt dort die Qanon-Ideologie die Politik mit. Sie baut auf der Vorstellung auf, dass Eliten der demokratischen Partei Kinder entführen lassen, um sie in geheimen Bunkern zu misshandeln und ihnen dabei einen im misshandelten Körper produzierten Stoff abzuzapfen, der den Eliten zur Lebensverlängerung dienen soll. Jene Eliten wiederum planten einen Putsch in den USA und in der Welt, welcher der Etablierung einer neuen Weltordnung diene. Sie betrieben schon heute einen „Deep State“, eine Art „Schattenstaat“ mit eigenen Gesetzen, der aus der Tiefe heraus, Wirtschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft steuere. Insofern seien auch gewählte Vertreter einer repräsentativen Demokratie keine legitimen Volksvertreter, sondern lediglich Marionetten des „Deep State“ der globalen Elite. In den USA basiert ein wesentlicher Bestandteil der Macht, die Ex-Präsident Trump nach wie vor innehat, auf diesem Verschwörungsmythos, verbunden mit der Erwartung, er, Trump, würde dem Putsch widerstehen, die Staatsfeinde festsetzen und die gefangengenommenen Kinder befreien.

Die Qanon-Ideologie ist eine der zentralen Erklärung dafür, wie es zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 kommen konnte. Spätestens da wurde die Gefährlichkeit der Bewegung offensichtlich. Sie zeigte sich aber längst auch im amerikanischen Alltag, wo sich Verschwörungsmythen wie dieser mit rassistischen Motiven vermischen und zur Verteidigung der weißen Rasse erklären lassen: nur die weiße Rasse, so die Überzeugung, können den dekadenten Eliten widerstehen. Das Zeichen der Qanon-Bewegung ist ein großes „Q“, zentrale Parolen sind „Where we go one, we go all.“ „Dort, wohin einer geht, dorthin gehen alle.“ oder auch die Parole „Save the children“, mit der der Anschluss tief hinein in die bürgerliche Mitte gesucht und gefunden wird.

Im Zuge der Corona-Pandemie hat Qanon auch in Deutschland Fuß gefasst. Ein bekannter Influencer der Szene war auf einem der Freiberger Montagsspaziergänge unterwegs, gelegentlich begegnen Ihnen Zeichen und Symbole der Bewegung in der deutschen sog. Querdenkerszene. Qanon kann sich hervorragend vernetzen mit der bestehenden rechtsextremistischen Szene, mit Reichsbürgern oder Esoterikern. Die Wandlungs- und Vernetzungsfähigkeit führt zu neuen Allianzen, die mit rechts und links nur noch grob zu fassen sind. Es entstehen weltanschaulich heterogene Gruppen, vereint im Mythos von der Weltverschwörung – und zunehmend nicht mehr ansprechbar auf Veränderungen innerhalb des demokratischen Systems, dass sie als Ganzes ablehnen.

Ich will Ihnen ein Beispiel für einen Verschwörungsmythos nennen, der in unserer Region großen Zuspruch erhielt und von führenden politischen Kräften verbreitet wird. Er erklärte die Fluchtkrise 2015/16 mit dem vermeintlichen Ziel, die Bevölkerung in Europa auszutauschen, Europa, wie überhaupt die weißen Zivilisationen des Westens „umzuvolken“. Der weltweite Rechtsterrorismus beruht auf diesem Mythos, indem er sich als Widerstand gegen alle versteht, die diesen Prozess unterstützen: seien es Migranten selbst, seien es Menschen mit liberalen Grundüberzeugungen, die sich für Freizügigkeit oder kulturelle Vielfalt einsetzen. Nach dem „Umvolkungsmythos“ sollen die vermeintlich hochentwickelten, widerstandfähigen weißen Völker gegen vermeintlich minderbemittelte und daher leichter zu führende Völker aus Afrika oder dem arabischen Raum ausgetauscht werden, um so die Macht der Eliten langfristig zu stützen. Die Grundannahmen, die hinter diesem Mythos stehen, sind rassistisch, tarnen sich aber als „kulturell“. Eine Politik, die sich gegen den vermeintlichen „großen Austausch“ wendet, wendet sich gegen Migration, gegen Globalisierung, setzt sich ein für eine Trennung von Kulturen, notfalls auch mit Gewalt, den im Endeffekt geht es um die Verteidigung angestammten Siedlungsgebietes sowie um die Verhinderung des sog. „Volkstodes“. Prof. Dr. Heßenkemper (AfD) hat in seiner aktiven Zeit vielfach die „Umvolkungstheorie“ vorgetragen. Alexander Gauland hat darüber bei einem der Kyffhäuser-Treffen des Flügels innerhalb der AfD eine vielbeachtete Rede gehalten. Jener Verschwörungsmythos gehört zum Kernbestand des politischen Denkens innerhalb der AfD.

Grundgedanken bei den Verschwörungsmythen um Corona sind andere, aber sie lassen sich leicht in das Schema einpassen. Die Pandemie solle demnach eine Krise auslösen, aus der heraus eine neue Weltordnung aufgebaut werden könne. Oder wenn schon nicht das, dann solle sie zumindest dazu dienen, die weltweiten Eliten noch reicher und mächtiger zu machen. Aber auch: Die Impfungen dienten entweder dazu, Menschen zu chippen und damit leichter kontrollierbar zu machen oder ihr Genom in solcher Weise zu manipulieren, dass Geimpfte auf absehbare Zeit in Masse sterben würden. Das schone Ressourcen, die in die Hände der Mächtigen fallen oder könne daher auch als großer Plan der sog. Klimafanatiker verstanden werden, die Weltbevölkerung zur Rettung des Klimas zu reduzieren.

Der Spielarten bei Verschwörungsmythen sind vielen, die Grundschemata sind immer gleich und daher untereinander entsprechend anschlussfähig.

„Argumente statt Mythen“ wirbt nun die Freiberger Kampagne. Weil Argumente wichtig sind, beispielsweise in der Aufklärung über die stets in neuem Gewand wiederkehrenden Grundstrukturen von Verschwörungs- mythen. Die Bedeutung der Wissenschaft wird in diesem Zusammenhang betont, weil sie in der Lage ist, die komplexen Probleme, die uns betreffen, zumindest annähert zu erklären und Lösungen zuzuführen.

Aber es muss bedacht werden, dass die Logik von Verschwörungsmythen in sich selbst schlüssig ist und Gegenargumente leicht als Ausdruck des vermeintlich gesteuerten Main-Stream entkräften werden können. Die Bundeszentrale für politische Bildung empfiehlt daher, betroffenen Menschen durch Fragen oder erklärende Literatur eher Angebote zu machen, um selbst aus dem geschlossenen Kreis der Mythen herauszufinden, als sie konfrontativ mit Argumenten überzeugen zu wollen. Zudem besteht die Empfehlung darin, die Beziehungsebene so lange wie möglich positiv zu gestalten. In der Sache gilt es zu widersprechen, die Wertschätzung für die Person aber gilt es zu bewahren.

Genau dafür stehen wir als „Freiberg für alle“ in dieser Corona-Pandemie. Wir klären auf und widersprechen, aber wir bleiben wertschätzend. Für das erste werden wir angefeindet, auch indem uns die Wertschätzung abgesprochen wird. So bspw. die Wertschätzung für das Pflegepersonal, dass gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht demonstriert. Wir sind jedoch, um auch diesem Mythos zu begegnen, keine politische Bewegung, die sich für die Impfpflicht einsetzt. Die Menschen, die sich zu „Freiberg für alle“ zählen, haben dazu verschiedene Meinungen, der einrichtungsbezogenen Impfpflicht wird vielfach kritisch begegnet. Pflegekräften haben wir im letzten Jahr nicht allein applaudiert, sondern ihnen mit der großangelegten Aktion „Kunst sei Dank“ unseren Dank und Respekt ausgedrückt. An dieser Haltung hat sich nichts geändert.

Wir haben uns zu keinem Zeitpunkt aktiv für eine Impfpflicht stark gemacht, aber wir haben Falschinformationen widersprochen, die über das Impfen verbreitet wurden und die nicht selten einen verschwörungstheoretischen Hintergrund haben und aus entsprechenden Quellen stammen.

Um den Problemen unserer Zeit zu begegnen, brauchen wir einen sachorientierten, wertschätzenden demokratischen Diskurs.
Verschwörungsmythen machen diesen unmöglich und werden daher von politischen Kräften befeuert, die eben an diesem Diskurs nicht interessiert sind. Deshalb widersprechen wir Falschinformation, Verschwörungsmythen sowie radikalen und extremen politischen Kräften und fordern unsere Mitbürger auf, es gleichzutun – stets mit dem Ziel eines friedlichen und vielfältigen Miteinanders. Denn diese Stadt, die Menschen hier, auch jene die den Spaziergängen folgen, und unser aller Miteinander sind uns wertvoll und wichtig.“